1 | IV. Bisheriger Stand der Wissenschaft / Rechtsprechung zum |
2 | Schutz inhaltsneutraler Tätigkeiten durch |
3 | Kommunikationsgrundrechte |
4 | |
5 | 1. Schutz von inhaltsneutraler Tätigkeit durch Art. 5 I GG |
6 | (BVerfG - Presse-Grosso) |
7 | |
8 | Hinsichtlich der grundrechtlichen Einordnung in Bezug auf |
9 | Art. 5 GG von (presseexternen) inhaltsneutralen Tätigkeiten |
10 | hat sich das BVerfG bisher nur in Bezug auf die |
11 | Presse-Grossisten.[FN: Das Presse-Grosso-System ist derzeit |
12 | Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen (zum Ganzen: |
13 | Gersdorf, Hubertus: AfP 2012, 336 ff.), in denen es um die |
14 | kartellrechtliche Zulässigkeit sowohl des Systems der |
15 | Alleinauslieferung (vgl. BGH, AfP 2011, 569 ff.; siehe |
16 | hierzu: Alexander, Christian: ZWeR 2012, 215 ff.; Bach, |
17 | Albrecht: NJW 2012, 728 ff.; Paal, Boris P.:AfP 2012, 1 ff.) |
18 | als auch des zentralen Verhandlungsmandats des |
19 | Bundesverbandes Deutscher Buch-, Zeitungs- und |
20 | Zeitschriften-Grossisten e.V. (vgl. LG Köln, AfP 2012, 195 – |
21 | nicht rechtskräftig; der Bundesverband Presse-Grosso hat |
22 | gegen das Urteil Berufung eingelegt, OLG Düsseldorf, Az. VI |
23 | U 7/12 [Kart].) geht.] geäußert. Das BVerfG musste 1988 |
24 | entscheiden, ob die Tätigkeit der externen |
25 | Presse-Grossisten, die an sich eine inhaltsneutrale |
26 | Tätigkeit ausüben, auch von dem Schutzbereich des Art. 5 I 2 |
27 | GG (Pressefreiheit) erfasst werden. Auch wenn der |
28 | Schutzbereich der Pressefreiheit recht weit gefasst wird, da |
29 | es um die Frage geht, ob eine ungehinderte |
30 | Meinungsverbreitung möglich ist, wird gleichwohl nicht jede |
31 | selbständige Tätigkeit von dem Schutzbereich des Art. 5 I 2 |
32 | GG erfasst, die der Presse lediglich zugute kommt und für |
33 | diese funktionswichtig ist. Maßgebend ist ein ausreichender |
34 | Inhaltsbezug der Tätigkeit. [ Vgl.: BVerfGE 77, 346 (354).] |
35 | Nur wenn dieser vorliegt, kann die Tätigkeit unter den |
36 | Schutzbereich der Pressefreiheit gefasst werden, da der |
37 | Schutz im Interesse der freien Meinungsbildung besteht. [ |
38 | Vgl.: BVerfGE 57, 295 (319).] Bei den presseinternen, |
39 | inhaltsfernen oder sogar inhaltsneutralen Hilfstätigkeiten |
40 | ist der Inhaltsbezug und somit der Schutz durch die |
41 | Pressefreiheit durch die organisatorische Verflechtung mit |
42 | dem Presseunternehmen begründet. [ Vgl.: BVerfGE 77, 346 |
43 | (354).] Bei den presseexternen Hilfstätigkeiten ist der |
44 | Schutz regelmäßig aufgrund mangelnden Inhaltsbezugs hingegen |
45 | nicht gegeben. Es sei denn: |
46 | |
47 | - eine selbständig ausgeübte, nicht die Herstellung von |
48 | Presseerzeugnissen betreffende Hilfstätigkeit, die |
49 | typischerweise pressebezogen ist |
50 | [ Vgl.: BVerfGE 77, 346 (354).] (= |
51 | presseexterne Hilfstätigkeit) weist eine |
52 | - enge organisatorische Bindung an die Presse [ Vgl.: |
53 | BVerfGE 77, 346 (354).] (erstens, wenn Presseunternehmen |
54 | für den freien Verkauf ihrer Erzeugnisse auf Grossisten |
55 | angewiesen sind; zweitens, wenn die Verleger auch umgekehrt |
56 | einen erheblichen Einfluss auf die Vertriebstätigkeit der |
57 | Grossisten haben) [Vgl.: BVerfGE 77, 346 (355).]auf; |
58 | - ist für das Funktionieren einer freien Presse notwendig |
59 | [ Vgl.: BVerfGE 77, 346 (354).] und eine |
60 | - staatliche Regulierung dieser Tätigkeit würde sich |
61 | zugleich einschränkend auf die Meinungsverbreitung |
62 | auswirken. [ Vgl.: BVerfGE 77, 346 (354).] |
63 | |
64 | Da das BVerfG diese Kriterien hinsichtlich der Tätigkeit der |
65 | Presse-Grossisten als erfüllt ansah, bescheinigte es ihnen |
66 | den Schutz der Pressefreiheit. Hinsichtlich anderer Anbieter |
67 | inhaltsneutraler Tätigkeiten hat sich das BVerfG noch nicht |
68 | geäußert. |
69 | |
70 | 2. Schutz von inhaltsneutraler Tätigkeit durch Art. 5 I GG |
71 | (Lit. Kabelnetzbetreiber) |
72 | |
73 | Fraglich ist nun, inwieweit die Rechtsprechung des BVerfG |
74 | fruchtbar gemacht werden kann, wenn es um den |
75 | Grundrechtsschutz hinsichtlich des Art. 5 I GG für die neuen |
76 | inhaltsneutralen Akteure geht. Eine Parallele zu der |
77 | Presse-Grosso-Rechtsprechung wurde bereits für die |
78 | Kabelnetzbetreiber hinsichtlich ihrer inhaltsneutralen |
79 | Tätigkeit – des Transports der Inhalte der |
80 | Rundfunkveranstalter – gezogen. [Vgl.: Gersdorf, Hubertus: |
81 | Grundzüge des Rundfunkrechts. Nationaler und europäischer |
82 | Regulierungsrahmen, 2003, S. 54 ff. und: Wichmann, Anja: |
83 | Vielfaltsicherung in digitalisierten Breitbandkabelnetzen. |
84 | Rechtsprobleme der Nutzung digitalisierter |
85 | Rundfunk-Kabelnetze durch Fernsehveranstalter: 2004, S. 51.] |
86 | Bereits vor einigen Jahren wurde die Übertragung der |
87 | Presse-Grosso-Rechtsprechung auf die Kabelnetzbetreiber |
88 | gefordert. [ Vgl.: Gersdorf, Hubertus: Grundzüge des |
89 | Rundfunkrechts. Nationaler und europäischer |
90 | Regulierungsrahmen. 2003, S. 54 ff. und: Wichmann, Anja: |
91 | Vielfaltsicherung in digitalisierten Breitbandkabelnetzen. |
92 | Rechtsprobleme der Nutzung digitalisierter |
93 | Rundfunk-Kabelnetze durch Fernsehveranstalter. 2004, S. 43 |
94 | ff.] Dabei muss unterschieden werden zwischen der reinen |
95 | Transporttätigkeit durch Programmübermittlung einerseits und |
96 | der Programmbündelung und -vermarktung andererseits. Während |
97 | die reine Programmübermittlung keinen Inhaltsbezug aufweist, |
98 | ist dieser bei der Programmbündelung gerade durch die |
99 | Auswahl der Programme, die eingespeist werden sollen, |
100 | gegeben. Für die Frage des Grundrechtsschutzes der |
101 | Kabelnetzbetreiber aus der Rundfunkfreiheit wird die |
102 | Rechtsprechung des BVerfG zum Presse-Grosso, die |
103 | hinsichtlich der Pressefreiheit ergangen ist, auf die |
104 | Rundfunkfreiheit übertragen. [Vgl.: BVerfGE 78, 101 (103), |
105 | das hinsichtlich des Grundrechtsschutzes der erforderlichen |
106 | Hilfstätigkeiten eines Rundfunkveranstalters auf die |
107 | Presse-Grosso-Rechtsprechung verweist und diese bejaht.]Dann |
108 | wird geprüft, ob die Voraussetzungen, die das BVerfG |
109 | hinsichtlich des Grundrechtsschutzes einer inhaltsneutralen |
110 | Tätigkeit aufgestellt hat, vorliegen. |
111 | |
112 | Voraussetzung für den Grundrechtsschutz aus der |
113 | Rundfunkfreiheit für Hilfstätigkeiten ist: [Vgl.: Wichmann, |
114 | Anja: Vielfaltsicherung in digitalisierten |
115 | Breitbandkabelnetzen. Rechtsprobleme der Nutzung |
116 | digitalisierter Rundfunk-Kabelnetze durch |
117 | Fernsehveranstalter. 2004, S. 51.] |
118 | |
119 | - eine selbständig ausgeübte Tätigkeit, die nicht in der |
120 | Veranstaltung von Rundfunksendungen besteht, |
121 | - dass die Tätigkeit eine notwendige Bedingung für einen |
122 | freien Rundfunk ist und |
123 | -dass sie einen ausreichenden Inhaltsbezug aufweist. Dieser |
124 | ist gegeben, [ Vgl.: Wichmann, Anja: Vielfaltsicherung in |
125 | digitalisierten Breitbandkabelnetzen. Rechtsprobleme der |
126 | Nutzung digitalisierter Rundfunk-Kabelnetze durch |
127 | Fernsehveranstalter. 2004, S. 51.] |
128 | - wenn die Hilfstätigkeit typischerweise rundfunkbezogen |
129 | ist, |
130 | - sie in enger organisatorischer Bindung an den Rundfunk |
131 | erfolgt und |
132 | - sich eine staatliche Regulierung dieser Tätigkeit zugleich |
133 | einschränkend auf die Meinungsbildung auswirkt. [ Vgl.: |
134 | ebd., S. 51.] |
135 | |
136 | Demzufolge fallen die Kabelnetzbetreiber hinsichtlich der |
137 | reinen Transportfunktion, die inhaltsneutral ist, unter den |
138 | Schutz des Art. 5 I 2 GG (Rundfunkfreiheit), da die oben |
139 | genannten Kriterien zum Presse-Grosso zum einen auf die |
140 | Rundfunkfreiheit übertragbar und zum anderen aus folgenden |
141 | Gründen erfüllt sind: Die Kabelnetzbetreiber üben eine |
142 | selbständige Tätigkeit aus, die auch, wenn man die reine |
143 | Transporttätigkeit betrachtet, nicht in der Veranstaltung |
144 | von Rundfunk besteht. Ohne die Verbreitung durch das |
145 | Kabelnetz könnte mangels alternativer Verbreitung nicht ein |
146 | so breites Publikum mit den Inhalten erreicht werden, so |
147 | dass dies eine notwendige Bedingung für einen freien |
148 | Rundfunk darstellt. Die Tätigkeit der Kabelnetzbetreiber ist |
149 | hinsichtlich des Transports der Rundfunkprogramme als |
150 | typischerweise rundfunkbezogen einzustufen. Die enge |
151 | organisatorische Bindung besteht, da die Beziehung zwischen |
152 | dem Kabelnetzbetreiber als Transporteur und den |
153 | Rundfunkveranstaltern als Inhalteanbieter sich als ein |
154 | wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis gestaltet. Zum einen |
155 | sind die Rundfunkveranstalter darauf angewiesen, dass die |
156 | Kabelnetzbetreiber das Rundfunkprogramm transportieren, da |
157 | sonst der Rezipient nicht in den Genuss des Programms kommen |
158 | würde. Zum anderen hat aber auch der große |
159 | Rundfunkveranstalter einen Einfluss auf den |
160 | Kabelnetzbetreiber, was die Nutzungskonditionen oder die |
161 | Kabelbelegungsentscheidungen angeht,[Vgl.: ebd., S. 52.] so |
162 | dass auch ein ausreichender Inhaltsbezug besteht. |
163 | |
164 | Dagegen ist hinsichtlich der Programmbündelung der Schutz |
165 | aus Art 5 I GG gegeben, ein Rückgriff auf die |
166 | Presse-Grosso-Rechtsprechung ist nicht erforderlich, da dies |
167 | keine inhaltsneutrale Tätigkeit ist. Vielmehr nimmt der |
168 | Kabelnetzbetreiber dadurch eine eigene inhaltliche, |
169 | programmbezogene Gestaltung vor, um ein attraktives |
170 | Programmbouquet zusammenzustellen. |
171 | |
172 | 3. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu inhaltsneutralen |
173 | Tätigkeiten von Providern |
174 | |
175 | Wenn man einen Blick auf die Rechtsprechung des BGH wirft, |
176 | so fällt auf, dass zahlreiche Urteile bezüglich der |
177 | Störerhaftung von Providern, zumeist Host-Providern, zu |
178 | finden sind. Die Host-Provider stellen gerade keine eigenen |
179 | Inhalte zur Verfügung, sondern lediglich die Server, auf |
180 | denen die Inhalte gespeichert werden können. |
181 | In einer Sache hatte der BGH zu entscheiden, welche |
182 | Prüfpflichten den Host-Provider in Bezug auf eine |
183 | Störerhaftung treffen, wenn ein Nutzer auf seiner Plattform |
184 | angeblich persönlichkeitsrechtsverletzende Äußerungen |
185 | tätigt. [Vgl.: BGH, NJW 2012, 148 ff.]In diesem Zusammenhang |
186 | hat der BGH zur Ermittlung dieser Prüfpflichten eine |
187 | Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten auf Seiten |
188 | des Verletzten und auf Seiten des Providers angestellt. Als |
189 | Grundrechte des Providers nennt der BGH Art. 5 I GG, Art 10 |
190 | EMRK, die Meinungs- und Medienfreiheit. [ Vgl.: BGH, NJW |
191 | 2012, 148 (150): Recht des Providers auf Meinungs- und |
192 | Medienfreiheit.] Somit erkennt der BGH für den Host-Provider |
193 | den Grundrechtsschutz aus Art. 5 I GG an – auch wenn eine |
194 | genauere Begründung dazu ausbleibt. |
195 | |
196 | 4. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu |
197 | inhaltsneutralen Tätigkeiten von Providern |
198 | |
199 | Rechtsprechung des EuGH bezüglich inhaltsneutraler |
200 | Tätigkeiten und den Kommunikationsfreiheiten ist durchaus zu |
201 | finden. Zuletzt hatte der EuGH in seiner Entscheidung vom |
202 | 16. Februar 2012 [Vgl.: EuGH, ZUM 2012, 307 ff. Sabam und |
203 | EuGH, ZUM 2012, 29 ff. Scarlet Extended.] über |
204 | urheberrechtliche Verletzungen auf Plattformen zu befinden, |
205 | ob dem Provider zulässigerweise eine generelle Pflicht zur |
206 | Einführung eines Filtersystems auferlegt werden darf. Bei |
207 | seinen Ausführungen erkennt der EuGH für den Host-Provider |
208 | keine Kommunikationsgrundrechte an. Es werden lediglich |
209 | Wirtschaftsgrundrechte in die Abwägung eingestellt. Nur für |
210 | die Nutzer werden Kommunikationsgrundrechte angeführt. |
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01.01.01.01 Anwendung der Kommunikationsgrundrechte auf Internetkommunikation, Lücken, Einordnungsschwierigkeiten - TEIL 4 (Originalversion)
von EnqueteSekretariat, angelegt